Selbst, Schutzstil und Charakterstil

Das Konzept des Charakterstils ist ein Kernkonzept der Integrativen Körperpsychotherapie IBP.
Jack Rosenberg, der Begründer von IBP, definierte Charakterstil als Abwehrverhalten im Rahmen von zwischenmenschlichen Beziehungen.
Er entwickelte eine eigene, gleichermassen einfache wie geniale Charaktertypologie. Dabei ging er
von der klinischen Beobachtung aus, dass seine Patienten bezüglich ihrer körperlichen und psychischen
Reaktionen in der Therapiesituation, speziell bei Anwendung von energetisierender Atmung,
grob in drei Kategorien, eben Charakterstile, einteilbar sind. Man stellte fest, dass der Charakterstil
zur Hauptsache das Nähe-Distanz-Verhalten einer Person begründet, das womöglich einflussreichste
Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmal eines Menschen. Diese Tatsache deutet schon an,
welches Potential in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Charakterstil schlummert 🙂

Die erste identifizierbare Gruppe reagiert auf die körperorientierte Therapie
und auftauchende Gefühle mit einer Öffnung des Körpers, einem weicher werden. Emotional
tauchen bei dieser Gruppe alte, kindliche Sehnsüchte und Wünsche nach Nähe, Liebe, Gemeinsamkeit
auf. Diese Menschen suchen Sicherheit und Geborgenheit in zwischenmenschlichen Beziehungen.
Entsprechend betrifft ihre Hauptangst die Angst vor dem Alleinsein, vor Trennung. Die Menschen
dieser Gruppe sind meist gut verbunden mit ihren Emotionen. Sie geben sich bedürftig und funktionieren
nach dem Motto: „Es ist nie genug! So etwas wie zu viel an Kontakt gibt es für mich nicht.“ Sie tun
fast alles, um Verlassenwerden zu verhindern! Entsprechend setzen sie kaum Grenzen, sondern
sagen fast automatisch ja zu Wünschen anderer um sie an sich zu binden. Aus Angst, verlassen zu
werden, stellen sie ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse zurück. Damit verlieren sie den Kontakt
zum eigenen Kern oft und leicht. Wir nennen sie Never Enougher. Hintergrund
dieses Verlassenheits-Charakterstils scheinen frühkindliche Verlassenheitserfahrungen zu
sein: Als Kind hat man zu wenig positive Zuwendung bekommen, sei das körperliche oder emotionale Zuwendung.

Die zweite Gruppe stellt den Gegenpol zur Gruppe der Verlassenen dar: Diese
Menschen reagieren auf die körperorientierte Therapie und auftauchende Gefühle mit einem Verschliessen
des Körpers, einer Versteifung und Verhärtung der Muskulatur und anderer Gewebe, und
drängen damit die auftauchenden Gefühle zurück ins Unbewusste. Parallel dazu stossen sie den
Therapeuten (und im Leben andere Menschen) entschieden von sich. Sie leben nach dem Motto:
Niemand soll mir zu nahe kommen. Mir geht’s gut alleine, ich brauche zum Leben niemand anderen!“
Hintergrund dieses Verhaltens ist die Angst vor Verlust der Kontrolle über das eigene
(Gefühls-)Leben, vor Vereinnahmung durch das Gegenüber. Die Hauptsorge dieser Menschen gilt
dem so genannten Eigenraum, den sie sehr schnell als bedroht erleben. Sie befürchten andauernd,
kontrolliert oder manipuliert zu werden. IBP bezeichnet das als Angst vor Überflutung. Solche Menschen
setzen rigide Grenzen, machen eine undurchdringliche Mauer um sich und reagieren auf Wünsche
anderer stereotyp mit einem Nein. Hintergrund dieses Überflutungs-Charakterstils scheinen
frühkindliche Erfahrungen von Missachtung der eigenen Grenze, des Eigenraums zu sein. Auch Überflutung
kann sowohl auf körperlicher als auch auf psychischer Ebene geschehen. Rosenberg taufte
diese Gruppe von Menschen Super Trouper (übersetzbar mit gepanzerter Ritter).

Die meisten Menschen gehören allerdings einer
dritten Gruppe von Charakterstil an. Sie wechseln in der körperorientierten Therapie hin und her zwischen
Öffnen und Verschliessen des Körpers. Diese Menschen weisen eine Kombination von Verlassenheits-
und Überflutungsthematik auf, zurückführbar auf ein Nebeneinander von Verlassenheitsund
Überflutungserfahrungen in der frühen Kindheit. Die Angehörigen dieser dritten Gruppe stecken
damit in einem gewissen Dilemma: Einerseits stehen sie unter dem Einfluss von Verlassenheitsangst
und suchen deshalb Nähe. Anderseits kennen sie aber ab einer gewissen Nähe auch Überflutungs-
ängste, benötigen dann Raum für sich selbst und gehen in diesem Moment, allenfalls für sich selbst
und andere überraschend, auf Distanz. Menschen mit diesem dritten, kombinierten Verlassenheits-
Überflutungs-Charakterstil haben das Problem, zwei einander entgegengesetzte Impulse unter
einen Hut bringen zu müssen: Der eine Impuls drängt sie vorwärts und hin zum anderen, der andere
Impuls drängt sie rückwärts und verlangt Distanz zum anderen. Tatsächlich sind die meisten Menschen
diesem Dilemma, in mehr oder weniger heftiger Form, ausgesetzt und müssen lebenslang das
machen, was wir an anderer Stelle den ewigen Tanz zwischen Nähe und Distanz genannt haben

Dem Mischtyp gab Rosenberg
den Namen Als-ob-Charakterstil (As-If Character Stile), Bezug nehmend auf eine Eigenschaft
dieses Charakterstils. Diese besteht darin, wenig zu spüren und zu fühlen, und damit nicht
wirklich zu wissen, wer man ist, und trotzdem so zu tun, als ob man es wüsste.

Drei Dinge müssen betont werden zur richtigen Einschätzung der Charakterstilthematik:
1. Alle Menschen haben einen Charakterstil, er gehört zu unserem menschlichen Dasein und hat
nicht a priori mit Pathologie zu tun. Er kann allerdings pathologisches Ausmass annehmen und krank
machen.
2. Keiner der drei Charakterstile ist besser oder schlechter als ein anderer. Entscheidend ist nicht die
Art des Charakterstils, sondern wie stark er bei einer Person ausgeprägt ist. Bei schwacher Ausprä-
gung kann man mit jedem der drei Stile gut leben und ist beziehungsfähig. Eine starke Ausprägung
hingegen limitiert die eigene Lebensgestaltung, insbesondere zwischenmenschliche Beziehungen
massiv, unabhängig von der Art des Charakterstils.
3. Die drei genannten Charakterstile entsprechen drei ausgewählten Charakterstil-Prototypen auf
einem Kontinuum von individuellen Charakterstilmöglichkeiten. Am einen Ende des Kontinuums findet
sich der reine Verlassenheitstyp, am anderen der reine Überflutungstyp. Genau in der Mitte zwischen
den Polen liegt der Mischtyp mit einem 50:50-Prozent-Verhältnis zwischen Verlassenheits- und Überflutungsangst.
Dazwischen gibt es dann alle möglichen Charakterstiltypen mit anderen Prozentverhältnissen
zwischen Verlassenheits- und Überflutungsangst als 50:50.
Der Charakterstil eines Menschen ist in der frühen Kindheit entstanden als Reaktion des Kindes auf
emotional verletzende Erfahrungen von Mangel an Kontakt (Verlassenheit) und/oder Mangel an Respekt
(Überflutung). Der Charakterstil hat seinen Ursprung also im Bemühen, sich zu schützen, eine
schwierige Situation zu bewältigen und sich vor kommenden, ähnlichen Situationen zu wappnen. Um
diesem Aspekt Rechnung zu tragen, sind wir in der Schweiz schon vor längerem dazu übergegangen,
dem Ausdruck Charakterstil den des Schutzstils nebenan zu stellen. Mit dem Ausdruck Schutzstil soll
das ursprüngliche Ziel des Kindes, sich mit diesen Verhaltensweisen zu schützen, zum Ausdruck
gebracht und seine kreative Leistung gewürdigt werden. Schutzstil startet in der Kindheit als weitgehend
funktionales, situationsangepasstes Verhalten, das assoziiert ist mit der Dimension „überlebenswichtig“.
Dies ist ein Hauptgrund dafür, weshalb es später im Erwachsenenalter so schwer ist,
die inzwischen überholten Anteile dieser Verhaltensweisen wieder ab zu legen.
Das Problem mit dem Charakterstil entsteht durch die Verallgemeinerung des Schutzstilverhaltens
von der kindlichen Situation auf spätere erwachsene zwischenmenschliche Situationen. Das kindliche
Gehirn hat beispielsweise die Erfahrung gemacht „Vater = emotional abwesend, nicht erreichbar“ und
eine taugliche Bewältigungsstrategie entwickelt, nämlich das Bemühen, es dem Vater immer recht
machen zu wollen, um ihn damit erreichbar zu machen. Untauglich wird dieser Lernschritt erst durch
seine Verallgemeinerung zu „Männer = emotional abwesend, nicht erreichbar“. Damit wird diese Person
nun allen Männern mit dieser Grundangst, respektive Grunderwartung begegnen und die alte
Bewältigungsstrategie des sich bedingungslos Anpassens anwenden. Jetzt hat sich der ursprünglich
situationsangepasste Schutzstil zu einem, nicht situationsangepassten, allenfalls sogar schädlichen
Verhalten gewandelt. Man könnte sagen: Aus funktionalem Schutzstil ist dysfunktionaler Charakterstil
geworden. Dieser dient nicht mehr notwendigem Schutz, sondern suggeriert Gefahr (vor Verlassenwerden
oder Überflutung), wo keine reale Gefahr besteht oder wo mit erwachsenen Mitteln der Gefahr
durchaus zu begegnen wäre. Damit drängt uns der Charakterstil im Erwachsenenalter zu Verhaltensmustern,
die nicht unsere wirklichen Interessen unterstützen. Ganz im Gegenteil: Allzu oft sabotiert
der Charakterstil unsere wahren Bedürfnisse nach Nähe, Intimität, Eigenraum. Etwas salopp
formuliert könnte man den Charakterstil mit einer alten Software (des Gehirns) vergleichen, die nie
einen Update erfahren hat und damit den aktuellen Bedürfnissen überhaupt nicht mehr entspricht,
sondern diese sogar unterläuft.
Wenn wir aus der fatalen Charakterstilfalle, die verantwortlich ist für den grössten Teil zwischenmenschlicher
Probleme, herauskommen wollen, bleibt nur ein Weg: 1. Licht ins Dunkel des eigenen
Charakterstils bringen. Diesen erkennen und benennen. 2. Unterscheiden und wählen lernen zwischen
Verhaltensimpulsen, die dem Kern des Selbst entspringen und solchen, die dem Charakterstil
entspringen. 3. Die alten Charakterstil-Programme in den Punkten updaten, wo sie nicht mehr adä-
quat sind, zum Beispiel durch Ersetzen negativer Kognitionen durch positive.
Dieses Unternehmen ist alles andere als einfach, und eindeutig der Abteilung Knochenarbeit zuzurechnen.
Trotzdem: Mit etwas Mut, sich eigenen unangenehmen Eigenschaften zu stellen, und mit
einer Portion Humor angesichts des cosmic joke, dass wir als gestandene Erwachsene unsere zwischenmenschlichen
Wünsche mit uralten Babystrategien erfüllen wollen, kann es gelingen. Eines
jedenfalls ist sicher: Die Arbeit am eigenen Charakterstil ist ein Königsweg zu langfristig erfüllenden,
liebevollen und lebendigen zwischenmenschlichen Beziehungen.

 

Erschienen in IBP Magazin 2 – Oktober 2011
Copyright © IBP Institut

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